Gerhard Joedicke: Tod - du bist das Leben
Gerhard Joedicke: Tod - du bist das Leben
Texte Mantren und Sprüche; Hamborner Taschenhefte 5
GEBURT und TOD sind die zwei Wegmarken unseres Daseins. Zugleich sind es zwei wirkende Prozesse, die unser Leben begleiten wie Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Werden wir nicht an jedem Morgen neu geboren – und erfahren wir nicht an jedem Abend einen leisen Tod? Die Seele des Menschen ist es, die von diesem Rhythmus getragen wird, wie auch von dem Einströmen und Ausströmen unseres Atems. Auch hier ein Leben empfangen und Leben dahingeben. Todesfurcht oder Todessehnsucht sind die zwei Gefahren, die den Blick des Menschen für den Schwellenübergang trüben. Todesfurcht wird hinfällig, wenn wir den Tod als Schwelle in die geistige Welt betrachten. Aber auch Todessehnsucht wird uns nicht frühzeitig aus dem Erdenschicksal herausführen, wenn wir die “Wertherstimmung” überwinden und jeden Tag unseres Lebens als einen neuen Schicksalsauftrag ansehen. Leben und Tod des Menschen stehen in einem engen Zusammenhang. Die Natur offenbart uns im Erblühen und Verwelken diese beiden Pole. Die Erde ist es, die unseren Leib ernährt und aufbaut; sie ist es auch, die unsere Leibeshülle am Ende unserer Tage empfängt. – Herbst des Jahres und Herbst des Lebens klingen zusammen. Wir bringen die Ernte eines langen Lebens “in die Scheuer”. Reife wird uns zuteil im hohen Lebensalter, bis hin zur Vollendung.